Die chaotische oder dynamische Lagerhaltung funktioniert so: Gegenstände werden nicht nach Modell oder Funktion sortiert, sondern je nach Platzangebot ganz und gar zufällig im Lager verteilt. Ein sogenannter Stower verstaut einen Artikel, sagen wir einen Rucksack, im Lagerzentrum in einem beliebigen Regal und teilt den Ort anschließend dem System mit.
Angenommen, Sie haben einen blauen Wanderrucksack der Größe M bestellt, dann wird vom System Ihres Versandhändlers ein Picker losgeschickt, um diesen Rucksack im Lager abzuholen. Das System sagt ihm, in welchem Regal der Rucksack liegt und in welchem Fach, das sieht der Picker recht schnell, denn nach dem Prinzip der chaotischen Lagerhaltung ist es der einzige Rucksack in dem Regal. Würden da noch andere Rucksäcke liegen, müsste der Picker erst den Rucksack mit der richtigen Größe und Farbe suchen. Das kostet Zeit und führt vielleicht dazu, dass Sie einen lila Rucksack der Größe XL bekommen. Das wäre schon echt ärgerlich. Der Versandhandel atmet Präzision und Zeitdruck und das Chaos ist die Luft, die er zum Atmen braucht.
Welch’ erstaunliche kognitive Fähigkeit die Objektpermanenz ist, stellt man fest, wenn man Kleinkinder betrachtet. Die haben damit so ihre Schwierigkeiten, denn alles, was aus ihrem Blickfeld verschwindet, gibt es nicht mehr. Schrödinger würde sich freuen, aber wenn ein Kind den Opa nicht mehr sieht, gibt es in dem Moment auch keinen Opa.
Bei Erwachsenen ist das oft andersherum. Sie glauben an Dinge, die sie nicht sehen, halten an Vorstellungen und Systemen fest, die es schon lange nicht mehr gibt oder noch nie gegeben hat. Aber was soll man auch machen? Haben oder Nicht-Haben, das ist hier die Frage.
Pick. Pack.
Nicht Waren, wir prozessieren Sehnsüchte.
Deine geheimsten Gelüste sind im System hinterlegt.
Wollen, wollen – das ist das Einzige, was du musst.
Du musst wollen.
Sofort leuchtet ein Pickpfad auf
durch die Lagerschluchten.
Die Ameisen krabbeln los.
Dein Wille wird kommissioniert.
Kökkenmöddinger, Plural, die. Es könnten Gebäckspezialitäten sein oder Muschelhaufen oder Zeugnisse einer längst verschollenen Zivilisation. Wer weiß das schon. Kökkenmöddinger sind Geheimnis, Verheißung und Sehnsucht mit dem scharfen Nylon-Geruch einer Fjällräven Unisexjacke und stehen im klaren Widerspruch zur obersten Anweisung: “Niemals nie ein Paket öffnen!”
Wenn Carl von Linné die Natur betrachtet, sieht er Chaos, Unzucht und Perversion. Er sammelt die absonderlichsten Pflanzen, Fossilien, in Formaldehyd eingelegte Föten, die wie Steine wirken, und andere “Kuriositäten der Natur”. Dieses Durcheinander muss aufhören! Es braucht ein System, um all das zu erklären. Er, Carl von Linné, zieht los, um endlich Ordnung in diesen Saustall zu bringen.
0, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, 233. Jede Zahl ist die Summe der beiden Zahlen zuvor. Das geht unendlich so weiter. Dieses Muster taucht viel zu oft in der Natur auf, als dass es ein Zufall sein könnte. Die Kerne einer Sonnenblume sind in 21, 34 oder 55 Spiralen angeordnet. Tannenzapfen oder Ananaspflanzen verhalten sich ähnlich. Und haben Sie schon mal auf einen Romano-Salat geschaut?
Wir haben geglaubt, dass Mathematik völlig leidenschaftslos ist. Dabei ist die Natur von mathematischen Formeln durchdrungen, Formeln, die das Geheimnis von Harmonie und Schönheit in sich bergen.
Und plötzlich hat alles seine Ordnung! Linné teilt die ganze Natur in drei Bereiche auf –- Mineralien, Pflanzen – Tiere und gibt ihnen allen einen zweigliedrigen Namen. Zusätzlich kartografiert er die gesamte Natur anhand ihrer Geschlechtsmerkmale und unterteilt sie in männlich und weiblich. Die binäre Nomenklatur ist geboren, das Chaos beseitigt, die Natur in ihre Schranken verwiesen. Der Mensch ist wieder Herr über die Schöpfung. Und weil er nun alles versteht und einordnen kann, kann er sich auch seine eigene Unzucht erklären.
Blöd nur, dass Linné selbst nicht in dieses binäre Weltbild passt.
Chaos ist, was wir nicht verstehen. Es flößt uns Angst ein. Aus Angst vor Veränderung klammern sich Menschen nicht selten so stark an einem bestehenden System fest, dass sie nicht erkennen, wie unmenschlich dieses System eigentlich ist. Und selbst wenn sie es erkennen, erscheint es ihnen immer noch besser als die chaotische Ungewissheit außerhalb des bestehenden Systems. Das funktioniert in autoritären Regimen mit der Dämonisierung der Außenwelt genau so gut wie im Logistikzentrum von Jay und Joe.
Joe, deinen Zwilling, verlier ihn nie aus dem Auge. Das Lager ist ein Moloch, ohne Ende und Anfang, in seinen Schluchten verliert man sich. Und manchen Winkel hat noch nie ein Mensch betreten. Allein die Totes und Cards ruckeln klappernd vorbei, vollgeladen mit Ware, und transportieren die Haufen in die Untiefen des Labyrinths zu Dropzones, in denen ächzende Greifarme und monströse Roboterhände unter Stöhnen und ohne Unterlass sortieren, stapeln, beladen. Merkwürdige Dinge passieren. Dort unten ist ein Mensch nicht mehr ein Mensch.
Vollzieht sich unser Leben entlang einer Geraden, auf der wir uns vorwärtsbewegen, bis wir irgendwann umfallen? Klettern wir stattdessen möglicherweise eine Art Treppe empor? Oder sind wir bloß Teil eines immerwährenden Kreislaufs?
Egal! Das Management wird sich schon was dabei gedacht haben.
Ab dem späten 19. Jahrhundert machten sich nicht nur Militärs, Rassisten und Siedler über Deutsch-Südwestafrika (das heutige Namibia) her, sondern auch Kartografen. Dieses unbekannte wilde Land musste ja schließlich in Einheiten unterteilt und mit Beschreibungen versehen werden, die auch für deutsche Bürokraten verständlich sind. Eine lebensgefährliche Mission war das, denn allzu oft waren Ortsangaben eher so beschrieben: Gehe in östlicher Richtung bis zu jenem Berg, dann südlich den Fluss entlang bis zu jener Siedlung. Dass der Berg dann eher ein Hügel war, der Fluss ausgetrocknet und die Siedlung samt ihrem Stamm längst weitergezogen war, brachte viele Kartografen nicht nur um den Verstand, sondern auch ums Leben.
Einer der besten Tricks der Kartografie: Die sogenannten Paper-Towns. Kartenhersteller zeichneten früher Städte in ihre Karten ein, die es so gar nicht gab. Sozusagen als Kopierschutz, denn tauchte eine dieser erfundenen Städte auf der Karte eines anderen Anbieters auf, so wusste man, dass diese Karte geklaut war. In den USA hatte das zuweilen witzige Folgen: Einige Siedler machten sich auf den Weg zu einer Stadt, die es nicht gab, ließen sich genau an diesem Ort nieder und gaben ihm nicht selten den Namen der imaginären Stadt auf der Karte.
Wir Menschen suchen oft nach etwas, das es eigentlich nicht gibt, das aber durch unsere Suche entstehen kann. Das System erschafft sich quasi selbst.
Bisher hatte man die Welt von Standpunkt des Betrachters gesehen. Ebenerdig. Erst Leonardo da Vinci klappte die Welt wie eine geschälte Apfelsine auf und kippte sie nach oben, sodass man sie aus der Vogelperspektive betrachten konnte. Ganz neue Möglichkeiten ergaben sich, die auch das Denken der Menschen veränderten und den Glücklichsten unter ihnen ganz neue Macht verlieh. So trafen sich 1884 sehr mächtige weiße Männer in Berlin und teilten Afrika untereinander auf. Aus der Vogelperspektive. Mit Linealstrichen quer durch Berge, Flüsse, Stämme und Leben. Die Folgen sehen wir noch heute.
Mit letzter Kraft schreibt Pham Thi Tra My ihren Eltern eine SMS. Sie steckt in einem Container auf dem Weg nach England und kann nicht mehr atmen. Tage später finden die Behörden in Essex 39 vietnamesische Leichen, erstickt auf dem Weg in ein besseres Leben.
Bis in die 1960er Jahre wurden Waren einzeln auf Schiffen transportiert, noch an Bord zum Entladen in Netze gestopft und aus dem Schiff gezogen. Das Löschen eines Frachtschiffes dauerte meist Tage.
Besonders heikel war das für die Kriegsbemühungen der Amerikaner in Vietnam, denn sie verfügten nur über einen einzigen Tiefwasserhafen. Die Kriegsmaschine verdurstete.
Ein findiger Unternehmer, Malcom McLean, kam auf die Idee, Waren von nun an in standardisierten Containern zu transportieren, sie als Einheit von Bord des Schiffes zu heben und erst an Land zu entladen. Dieses revolutionäre System stellte er der US-Armee kostenlos zur Verfügung - nicht ohne Eigennutz, denn auf dem Rückweg machten seine Schiffe mit den leeren Containern in Japan halt, luden Konsumprodukte und brachten sie in das nach billigen Waren dürstende Amerika.
Der Krieg konnte hochskaliert werden, Japan stieg zur Industriemacht auf und der moderne Konsumwahnsinn war geboren.
Der Hochseecontainer hat die Welt verändert. Es gibt kein Zurück mehr. Waren schippern zu Centbeträgen um die Erdkugel und oftmals ist es billiger, eine Jacke extra nach Asien zu schicken, um ihr dort ein paar Knöpfe anzunähen. Die Werkbänke der dritten Welt stehen bereit. Es wird nicht mehr nach dem Grund gefragt, sondern nur noch nach dem Preis.
Der Container hat ein Eigenleben bekommen: Er bringt uns Wohlstand. Er bringt billige Güter bis an unsere Haustür und sorgt dafür, dass wir auch mitten im Winter frische Ananas haben. Er hilft uns dabei, die dritte Welt noch effektiver auszubeuten. Doch wer glaubt, der globale Warenverkehr wäre eine Einbahnstraße, der irrt. Mittlerweile kommen auch die menschlichen Folgen unseres rücksichtslosen Handelns bis an unsere Türschwelle.
Hört ihr das Pochen?
Was genau ist ein Fehler? Warum tritt er auf und wie häufig? Wir Menschen können nicht anders, als Muster zu erkennen. So funktioniert unser Gehirn. Es stellt Verbindungen her. Wenn nun etwas Unvorhergesehenes passiert, analysieren wir es so lange, bis wir einen Sinn daraus machen können. Mittlerweile haben wir unsere Welt so lange und stark durchstrukturiert, dass wir anfangen, unsere eigenen Gesetzmäßigkeiten aufzustellen und Ordnung nicht mehr nur zu finden, sondern zu erschaffen. Mit jedem Schritt versuchen wir, unsere Welt zu strukturieren und generieren dadurch an anderer Stelle nur Chaos. Ist der Mensch dieser Fehler?